Rechtstipp im Arbeitsrecht
fristlose Kündigung: Erbringung von Arbeitsleistung bei Annahmeverweigerung ist kein Arbeitszeitbetrug
Das Arbeitsgericht Reutlingen hat mit Urteil vom 27.01.2023 zum Aktenzeichen 3 Ca 313/21 in einem von Rechtsanwalt Dipl.-Jur. Jens Usebach LL.M. der Schwerpunktkanzlei JURA.CC vertretenen Fall entschieden, dass die Kündigung eines Arbeitnehmers, dem Arbeitszeitbetrug vorgeworfen war, weil er nach der Ankündigung von Arbeitsleistungen solche erbracht hat und diese im Arbeitszeiterfassungssystem des Arbeitgebers eingetragen hatte, rechtswidrig ist.
Die Parteien streiten über die Frage der Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund einer fristlosen Kündigung der Beklagten, hilfsweise einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist.
Der am 23.11.1958 geborene, ledige Kläger ist bei der Beklagten seit 13.11.2006 auf der Grundlage des schriftlichen Arbeitsvertrages vom 07.11.2006, hinsichtlich dessen vollständigen Inhalts auf Blatt 46 bis 51 der Akte Bezug genommen wird, beschäftigt. Ziffer 2 dieses Anstellungsvertrages lautet: „Herr Reinartz wird eingestellt als Servicetechniker für unserer Vertriebs- und Service-Center West. Die Mitarbeit erfolgt überwiegend im Außendienst innerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Vertriebs- und Service-Centers West.“ Die Beklagte beschäftigt mehr als zehn Arbeitnehmer/innen mit Ausnahme der Auszubildenden; die Bruttomonatsvergütung des Klägers betrug zuletzt EUR 3.859,50, einschließlich Sonderzahlungen durchschnittlich EUR 4.500,00. Zuletzt war der Kläger an einem Arbeitsplatz im sogenannten Bereich „Checkout“ der Beklagten in Köln eingesetzt.
Der Kläger ist seit August 2008 als schwerbehinderter Mensch (GdB 50) anerkannt; er hatte im November 2017 einen Unfall. Seit dieser Zeit besteht eine Einschränkung beim Heben und Tragen für die rechte Schulter. Seit 05.03.2019 soll er keine Gewichte über 4 kg nicht häufiger als zehn Mal pro Tag und nicht über 5 kg heben. Im Februar 2020 erhielt die Beklagte vom Kläger eine ärztliche Bescheinigung des Betriebsarztes vom 20.02.2020, welche Einschränkungen im Heben und Tragen für den Kläger beschrieb: „Bis voraussichtlich 31.12.2020 kein Heben und Tragen von Gewichten über 5 kg, über 4 kg nicht häufiger als 10x/Tag mit dem rechten Arm. Dauerhaft kein Heben und Tragen von >10 kg (…)“. Hinsichtlich des vollständigen Inhaltes dieses Attestes wird auf Blatt 156 d. A. Bezug genommen.
Von Mai 2020 bis einschließlich 07.11.2021 war der Kläger arbeitsunfähig. Er wurde am linken und anschließend am rechten Knie operiert. Er befand sich zuletzt im Krankengeldbezug, welcher am 07.11.2021 endete. Am 07.04.2021 fand ein Gespräch der Parteien im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements statt.
In einem weiteren BEM-Gespräch am 06.10.2021 teilte der Kläger mit, dass er auch weiterhin im Besitz eines ärztlichen Attestes sei, welches eine Beschränkung im Heben und Tragen bein-halte. Dieses Attest wurde der Beklagten schriftlich erst im Anschluss übermittelt. Hinsichtlich des vollständigen Inhalts dieses Attestes, ausgestellt von Dr. Haunhorst unter dem Datum vom 21.09.2021, wird auf Blatt 295 der Akte Bezug genommen.
Den zweifach vorgetragenen Wunsch des Klägers auf eine Wiedereingliederungsmaßnahme lehnte die Beklagte ab.
Am 19.10.2021 meldete sich der Kläger telefonisch bei der zuständigen Sachbearbeiterin der Beklagten und teilte mit, dass er am 08.11.2021 seine Arbeit ohne stufenweise Wiedereingliederung aufnehmen werde.
Mit E-Mail vom 22.10.2021, hinsichtlich deren Inhalts auf Blatt 301 der Akte Bezug genommen wird, teilte der Kläger mit, dass er ab 08.11.2021 wieder zu Verfügung stehe und seine Tätigkeit als Servicetechniker wieder aufnehmen werde.
Mit E-Mail vom 28.10.2021, hinsichtlich deren vollständigen Inhalts auf Blatt 305 der Akte Be-zug genommen wird, teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass er die Arbeit nicht aufnehmen könne.
Mit weiterer E-Mail vom 02.11.2021, hinsichtlich dessen vollständigen Inhalts auf Blatt 311 Be-zug genommen wird, kündigte der Kläger erneut an, ab dem 08.11.2021 seine Arbeitskraft wie-der zur Verfügung zu stellen. Weiter: „Hiermit gebe ich Ihnen schriftlich, dass ich auf eigene Verantwortung bereit bin, meine Tätigkeit im Checkout-Bereich wieder aufzunehmen, auch wenn ich mehr als 40 kg täglich an Belastung haben werde.“ Hierauf erwiderte die Beklagte mit E-Mail vom 04.11.2021, „dass wir einer Aufnahme ihrer Arbeit ohne eine Freigabe von unserem Betriebsarzt Herrn Dr. Wagner nicht zustimmen werden.“ Auf den vollständigen Inhalt der Nach-richt wird auf Blatt 312 der Akte Bezug genommen.
Am 08.11.2021 fuhr der Kläger von seinem Wohnort zur Außenstelle der Beklagten nach Köln, um dort seine Arbeit aufzunehmen. Nachdem er die Tätigkeit vor Ort in Köln nicht aufnehmen konnte, weil das Werkstattschloss gewechselt worden war, unterrichtete der Kläger die Beklag-te hierüber mit E-Mail vom 08.11.2021, hinsichtlich deren Inhalts auf Blatt 315 der Akte Bezug genommen wird. Für den 08.11.2021 hat der Kläger im Zeiterfassungssystem zur Arbeitszeit bei der Beklagten „Kommen“ um 06:12 Uhr erfasst. In den Tagen darauf betätigte der Kläger das Zeiterfassungssystem bei der Beklagten wie folgt: 09.11.2021 – 6:59 Uhr Kommen, 14:48 Uhr Gehen; 10.11.2021 – 06:58 Uhr Kommen, 14:57 Uhr Gehen, 11.11.2021 – 06:57 Uhr Kommen, 14:46 Uhr Gehen; 12.11.2021 – 06:59 Uhr Kommen, 15:02 Uhr Gehen; 15.11.2021 06:57 Uhr Kommen, 14:45 Uhr Gehen; 16.11.2021 – nicht anwesend; 17.11.2021 06:58 Kom-men; 15:05 Uhr Gehen.
Am 10.11.2021 übermittelte der Kläger an die Beklagte ärztliches Attest vom 02.11.2021, hin-sichtlich dessen vollständigen Inhalts auf Blatt 296 der Akte Bezug genommen wird, legte im Anschluss daran der Beklagten ein weiteres Attest vom 16.11.2021 (Blatt 338 der Akte) vor: „Herr Reinartz befindet sich in unserer Behandlung wegen der Folgen eines Unfalles. Erkrankungsbedingt ist Herr Reinartz voraussichtlich bis 31.12.2022 nicht in der Lage seine re. Schulter im vollem Umfang zu belasten. Insbesondere sollte er Gewichte über 4 kg nicht häufiger als 10mal pro Tag und keine Gewichte über 5 kg heben.“
Am 17.11.2021 fand ein Gespräch zwischen den Parteien statt, in dem der Kläger der Auffassung von Personalsachbearbeiterin und unmittelbarem Vorgesetzten widersprach, dass das Attest der Hausärztin vom 02.11.2021 mit dem Inhalt, dass der Kläger im Bereich Checkout vollständig arbeitsfähig ist, das vorherige Attest von Dr. Haunhorst über die Gewichtseinschränkungen aufgehoben habe. In demselben Gespräch hörte die Beklagte den Kläger zum Vorwurf des dringenden Verdachts eines Arbeitszeitbetruges an.
Nach Anhörung von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung bei der Beklagten und nach-dem die beklagtenseits beim Landschaftsverband Rheinland beantragten Zustimmungen zu den beabsichtigten Kündigungen durch die Bestätigung vom 08.12.2021 über den Eintritt der Fiktionswirkung (§ 174 SGB IX) erfolgt waren, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 08.12.2021 außerordentlich zum 10.12.2021. Mit weiterem Schreiben vom 08.12.2021 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis hilfsweise außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2022.
Das Arbeitsgericht hat entschieden, dass der von der Beklagten den Kündigungen zugrunde gelegte Verdacht eines Arbeitszeitbetruges, dass der Kläger die Zeiterfassung getätigt gehabt habe, obwohl er von ihr keine Arbeitsaufträge und Anweisungen erhalten habe nicht besteht, jedenfalls als nicht dringend angesehen werden kann.
Hierbei verkennt die Kammer nicht, dass, auch aus Sicht des Klägers, aufgrund der Mitteilung der Beklagten per E-Mail vom 28.10.2021 und 04.11.2021 erkennbar war, dass die Beklagte die vom Kläger angekündigte Arbeitsaufnahme ab 08.11.2021 ausdrücklich ablehnte. Diese Ablehnungen waren auch in keiner Weise missverständlich. Sie enthielten keinerlei Einschränkungen.
Der Kläger kann jedoch aus Sicht der Kammer zu seinen Gunsten geltend machen, dass die von ihm vorgenommenen Zeiten im Zeiterfassungssystem nicht „grundlos“ allein zur Erzielung eines Irrtums bei der Gegenseite über eine Arbeitsleistung vorgenommen wurden, welche er tatsächlich nicht erbracht hätte. Der Kläger hat im Einzelnen vorgetragen, dass und welche Aufgaben er an den mit der Zeiterfassung angesprochenen Tagen bearbeitet habe. Insbesondere ergibt sich auch aus dem vom Kläger vorgelegten E-Mails der Beklagten an ihn (Anlage K63) dass, wenn auch automatisiert, die Arbeitgeberin ihn zu Trainings aufforderte, welche nach Lernplan überfällig gewesen seien. Der Kläger hat die entsprechenden elektronischen Nachrichten in Kopie vorgelegt; die Beklagte vermochte hierzu in der Folge ihr Bestreiten nicht zu substantiieren. Soweit die Beklagte behauptet hat, dass der Kläger angewiesen worden sei, keine E-Mails zu bearbeiten, ist hierzu auf das Bestreiten des Klägers hin ebenfalls kein weiterer Vortrag erfolgt. Auch hat der Kläger vorgetragen, dass er, nachdem er die Werkstatt verschlossen vorgefunden hatte, in häuslicher Tätigkeit nicht nur die Lernprogramme absolviert habe, sondern auch Mobiltelefondaten übertragen habe. Auch damit hat der Kläger einen Vor-trag geleistet, welcher geeignet ist, die Fertigung von Zeiteinträgen im Arbeitszeiterfassungs-system zu erläutern und zu rechtfertigen. Dass diese Tätigkeiten der Schulung und der Über-tragung von Daten vom Kläger tatsächlich nicht ausgeführt wurden, vermochte die Beklagten nicht zu widerlegen. Der Vortrag des Klägers bot hierzu auch genügend Anlass zum eigenen Tatsachenvortrag, da die per E-Mail übermittelten Arbeitsanweisungen im Prozess in Kopie dargetan wurden, darüber hinaus der Kläger unter Anfügung von konkreten Personen schildern konnte, an wen er sich bei dem am einen Tag aufgetretenen IT-Problem bei der Beklagten gewendet habe. Vermag aber der Kläger für sich in Anspruch zu nehmen, dass er aufgrund der von der Beklagten an ihn gerichteten E-Mail-Schulungsaufforderungen diese bearbeitet und das Zeiterfassungssystem entsprechend bedient habe und vermag die Beklagte diese Anweisungen nicht zu widerlegen, vermittelt dies der Kammer keine Gewissheit im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger mit seinem Handeln die bewusste und gewollte Schädigung der Beklagten erreichen wollte, durch vorgespiegelte Arbeitstätigkeit unberechtigt Vergütung zu erlangen. Aufgrund dessen fehlt es an einem dringenden Verdacht im Rechtssinne mit der Folge, dass die ausgesprochene fristlose Kündigung weder als solche noch diejenige mit sozialer Auslauffrist Bestand haben kann, die Klage zum Klagantrag Ziffer 1 daher begründet ist. Davon zu trennen ist die Frage, ob die vom Kläger behaupteten und im Zeiterfassungssystem dokumentierten Tätigkeiten als vertragliche Arbeitsleistung und damit als vergütungsrelevant angesehen werden können. Dies ist jedoch nach Ansicht der Kammer irrelevant für die Frage des dringenden Verdachtes des arbeitsvertragswidrigen Verhaltens.