Rechtstipp im Arbeitsrecht
Eine AU-Bescheinigung (Krankmeldung) des Arbeitnehmers nach Kündigung durch Arbeitgeber ist nicht verdächtig
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat mit Urteil vom 08.03.2023 zum Aktenzeichen 8 Sa 859/22 entschieden, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grds. auch dadurch erschüttert werden kann, dass der Arbeitnehmer sich im Falle des Erhalts einer arbeitgeberseitigen Kündigung unmittelbar zeitlich nachfolgend – „postwendend“ – krank meldet bzw. eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreicht. Das gilt insbesondere dann, wenn lückenlos der gesamte Zeitraum der Kündigungsfrist – auch durch mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – abgedeckt wird.
Meldet sich zunächst der Arbeitnehmer krank und erhält er erst sodann eine arbeitgeberseitige Kündigung, fehlt es an dem für die Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung notwendigen Kausalzusammenhang.
Allein die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben ist, am unmittelbar darauffolgenden Tag gesundet und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginnt, erschüttert in der Regel ohne Hinzutreten weiterer Umstände den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht.
Ein Arbeitnehmer hat nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.
Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG.
Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG reicht die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung strahlt auch auf die beweisrechtliche Würdigung aus. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt daher aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.
Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet jedoch keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit iSd. § 292 ZPO mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre. Aufgrund des normativ vorgegebenen hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt jedoch ein „bloßes Bestreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Der Arbeitgeber ist dabei nicht auf die in § 275 Abs. 1a SGB V aufgeführten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit beschränkt. Hierfür gibt es weder nach Wortlaut, Systematik und Zweck der Regelung, der in der Bekämpfung eines Missbrauchs der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall liegt, hinreichende Anhaltspunkte. Diese Bestimmung gibt ihm lediglich ein zusätzliches Instrument zur Erschütterung des Beweiswerts an die Hand, um einem missbräuchlichen Verhalten des Arbeitnehmers begegnen zu können. Den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich auch aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers oder aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst ergeben.
Bei der näheren Bestimmung der Anforderungen an die wechselseitige Darlegungslast der Parteien ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat und nur in eingeschränktem Maß in der Lage ist, Indiztatsachen zur Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzutragen. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten hat das Bundesarbeitsgericht bereits erkannt, dass dem Arbeitgeber, der sich auf eine Fortsetzungserkrankung iSd. § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG beruft, hinsichtlich der ihn insoweit treffenden Darlegungs- und Beweislast Erleichterungen zuzubilligen sind. Ebenso hat es entschieden, dass in Bezug auf die vom Arbeitgeber im Rahmen von § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG vorzutragenden Indizien für das Vorliegen eines einheitlichen Verhinderungsfalls der Unkenntnis des Arbeitgebers von den Krankheitsursachen angemessen Rechnung zu tragen ist. Da die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine gesetzliche Vermutung oder eine Beweislastumkehr auslöst, dürfen an den Vortrag des Arbeitsgebers, der ihren Beweiswert erschüttern will, keine – unter Berücksichtigung seiner eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten – überhöhten Anforderungen gestellt werden. Der Arbeitgeber muss gerade nicht, wie bei einer gesetzlichen Vermutung, Tatsachen darlegen, die dem Beweis des Gegenteils zugänglich sind.
Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag zB dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Soweit er sich für die Behauptung, aufgrund dieser Einschränkungen arbeitsunfähig gewesen zu sein, auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte beruft, ist dieser Beweisantritt nur ausreichend, wenn er die Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbindet. Ob dies konkludent, zB durch die Benennung als Zeuge, geschehen kann, erscheint mit Blick auf die höchstpersönliche Natur des Schutzinteresses des Arztgeheimnisses nicht frei von Zweifeln.
Mit Urteil vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts erkannt, dass dann, wenn ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis kündigt, am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben wird, dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern kann, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst (zeitliche Koinzidenz).
Dem vom Bundesarbeitsgericht zuletzt entschiedenen Fall lagen drei wesentliche Umstände zugrunde, die in ihrer Gesamtheit zur Erschütterung des Beweiswertes führten: 1.) es handelte sich um eine einzige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, 2.) diese Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung deckte passgenau die restliche Dauer des Arbeitsverhältnisses – also im dortigen Fall die gesamte Kündigungsfrist – ab, 3.) die dortige Klägerin hatte eine Eigenkündigung ausgesprochen, sich zeitgleich mit der Einreichung ihrer Kündigung arbeitsunfähig gemeldet und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht.
Die Vorlage einer einzigen, im vom Bundesarbeitsgericht zu entscheidenden Fall sich über einen Zeitraum von 15 Tagen erstreckenden ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist auch aus Sicht der Kammer in besonderer Weise zur Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geeignet. Liegen die übrigen oben genannten Voraussetzungen vor, so hindert aus Sicht der Kammer – gerade bei einer zwei Wochen übersteigenden Kündigungsfrist, wie dies hier der Fall ist – auch die Vorlage mehrerer Bescheinigungen nicht die Annahme, deren Beweiswert sei erschüttert.
Die ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen deckten vorliegend die gesamte Zeit bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ab. Die letzte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bescheinigte eine Krankheit des Klägers bis zum 31.05.2022, das Arbeitsverhältnis endete aufgrund der arbeitgeberseitigen Kündigung an diesem Tag.
Vorliegend hat der Kläger keine Eigenkündigung ausgesprochen, vielmehr hat die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit ihm gekündigt. Eine arbeitgeberseitige Kündigung kann nach Auffassung der Kammer, wenn der Arbeitnehmer sich „postwendend“ nach deren Erhalt arbeitsunfähig meldet, grundsätzlich ebenfalls geeignet sein, eines der Elemente zu bilden, die in der Gesamtschau den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern vermögen.
Derart lag es im vorliegenden Fall aber gerade nicht. Der zeitliche Ablauf der Geschehnisse war genau umgekehrt: Es war der Kläger, der am 2.5.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Beklagten einreichte, die an ebendiesem Tag ausgestellt war und diesen Tag als ersten Tag der Krankheit benannte. Die Kündigung der Beklagten datiert zwar auch vom 2.5.2022, ging dem Kläger jedoch erst am 3.5.2022 zu. Es kann dahinstehen, ob die Beklagte das Kündigungsschreiben bereits aufgesetzt hatte bzw. bereits zur Kündigung entschlossen war, als sie die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erhielt, denn darauf kommt es vorliegend nicht an. Entscheidend ist, dass der Kläger nicht erst durch den Erhalt einer arbeitgeberseitigen Kündigung dazu motiviert worden sein kann, einen Arzt aufzusuchen, um die Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erreichen.
Das aus Sicht der Kammer wichtigste Merkmal zur Erschütterung des Beweiswertes einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Fällen des vorliegenden Typs, die zeitliche Koinzidenz des Beginns der Arbeitsunfähigkeit mit einer Eigenkündigung bzw. – wie hier – ggf. auch einer Arbeitgeberkündigung, ist somit hier nicht gegeben. Die übrigen Umstände reichen nach Auffassung der Kammer zur Erschütterung des Beweiswertes nicht aus. Allein die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer vor dem Ende eines gekündigten Arbeitsverhältnisses und bis zu dessen letztem Tag – und sei es auch für mehrere Wochen – erkrankt, erschüttert den Beweiswert aus Sicht der Kammer nicht. Das gilt insbesondere im vorliegenden Fall, in dem der Kläger bereits vor Erhalt der Kündigung erkrankte, aufgrund der Erstdiagnose durchgängig bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig war und es sich zudem nach dem – vom Kläger freiwillig offengelegten – ICD-10-Code mit einer Infektion der oberen Atemwege um eine Erkrankung handelt, die ärztlicherseits in aller Regel gut und zweifelsfrei feststellbar ist. Dass im letzten Zeitabschnitt mit „emotionalem Schock oder Stress“ noch eine zweite Erkrankung hinzutrat, bei deren Feststellung der Arzt weitgehend auf Angaben des Patienten angewiesen ist, erschüttert den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht. Auch der Umstand, dass der Kläger just einen Tag nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses wieder arbeitsfähig war und zu arbeiten begonnen hat, reicht aus Sicht der Kammer für eine Erschütterung des Beweiswertes (noch) nicht aus.
Da die Beklagte den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht zu erschüttern vermochte und die übrigen Voraussetzungen eines Entgeltfortzahlungsanspruches nach § 3 Abs. 1 EFZG vorliegen, besteht der klageweise geltend gemachte Anspruch.