Rechtstipp im Arbeitsrecht
Bundesverfassungsgericht zum Erfordernis der Wahrung von Arbeitnehmerrechten beim gesetzlich vollzogenen Arbeitgeberwechsel im Rahmen einer Privatisierung
Überleitung von Arbeitsverhältnissen vom Land
Hessen auf das Universitätsklinikum Gießen und Marburg mit Art. 12 Abs. 1 GG
unvereinbar
(Stuttgart) Das
Bundesverfassungsgericht hat in einem am 16.02.2011 veröffentlichten Beschluss
entschieden, dass die durch § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG angeordnete und von den
Fachgerichten bestätigte Überleitung von Arbeitsverhältnissen vom Land auf das
Universitätsklinikum Gießen und Marburg mit dem durch Art. 12 Abs. 1 GG
geschützten Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes unvereinbar ist.
Darauf verweist der
Stuttgarter Fachanwalt für Arbeitsrecht Michael Henn, Präsident des VdAA -
Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. mit Sitz in Stuttgart,
unter Hinweis auf einen am 16.02.2011 veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 25.
Januar 2011 - 1 BvR 1741/09 -.
Im Jahr 2005 kam das Land Hessen vor dem
Hintergrund wirtschaftlicher Probleme der Universitätskliniken zu dem
Entschluss, die Universitätskliniken Gießen und Marburg zusammenzufassen und
sodann zu privatisieren. Das hierzu erlassene und am 1. Juli 2005 in Kraft
getretene Gesetz über die Errichtung des Universitätsklinikums Gießen und
Marburg (UKG) regelt, dass alle Rechte, Pflichten und Zuständigkeiten der
bislang selbständigen Universitätskliniken im Wege der Gesamtrechtsnachfolge
auf das „Universitätsklinikum Gießen und Marburg“ als neu errichtete Anstalt
des öffentlichen Rechts übergehen. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG wurden die
Arbeitsverhältnisse der in der Krankenversorgung und Verwaltung der beiden
Kliniken tätigen nichtwissenschaftlichen Beschäftigten, die bis dahin im Dienst
des Landes Hessen standen, auf das Universitätsklinikum Gießen und Marburg
übergeleitet. Eine der Vorschrift des § 613a Abs. 6 BGB entsprechende Regelung,
die bei einem rechtsgeschäftlichen Betriebsübergang den betroffenen
Arbeitnehmern ein Widerspruchsrecht gegen den Übergang ihrer
Arbeitsverhältnisse auf den neuen Betriebsinhaber einräumt, wurde nicht
aufgenommen.
Das Gesetz enthält ferner die Ermächtigung, die
neue Anstalt im Wege der Rechtsverordnung zu privatisieren. Die Privatisierung
erfolgte 2006. Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg wurde in eine
Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt. Das Land verkaufte 95 % der
Geschäftsanteile der neu geschaffenen Universitätsklinikum Gießen und Marburg
GmbH an einen privaten Krankenhausbetreiber, der sich verpflichtete, bis Ende
2010 keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen.
Die Beschwerdeführerin war als Krankenschwester und
damit als nicht wissenschaftlich tätige Arbeitnehmerin des Klinikums Marburg
beim Land beschäftigt. Sie widersprach dem Übergang des Arbeitsverhältnisses
auf das Universitätsklinikum Gießen und Marburg und später auf die GmbH. Ihre
Klage gegen das Land Hessen auf Feststellung, dass ihr Arbeitsverhältnis mit
dem Land fortbesteht, hatte zwar vor dem Arbeitsgericht, nicht aber vor dem
Landesarbeitsgericht und dem Bundesarbeitsgericht Erfolg. Der
Beschwerdeführerin stehe unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein
Widerspruchsrecht zu. Sowohl die Überleitung der Arbeitsverhältnisse als auch
die Nichteinräumung eines Widerspruchsrechts sei durch vernünftige Gründe des
Gemeinwohls gerechtfertigt.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die
Beschwerdeführerin im Wesentlichen eine Verletzung ihres Grundrechts auf freie
Wahl bzw. Beibehaltung des Arbeitsplatzes. Zudem sei sie in ihrem Recht auf den
gesetzlichen Richter verletzt, weil das Bundesarbeitsgericht vorab dem
Gerichtshof der Europäischen Union die Frage hätte vorlegen müssen, ob sich aus
dem Gemeinschaftsrecht (Richtlinie 2001/23/EG) ein Widerspruchsrecht der
Arbeitnehmer ergebe.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat
entschieden, dass die durch § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG angeordnete und von den
Fachgerichten bestätigte Überleitung des Arbeitsverhältnisses vom Land auf das
Universitätsklinikum Gießen und Marburg mit dem durch Art. 12 Abs. 1 GG
geschützten Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes unvereinbar ist.
Der Landesgesetzgeber ist verpflichtet, bis
spätestens zum 31. Dezember 2011 eine Neuregelung zu treffen. Die angegriffenen
Urteile sind aufgehoben und die Sache an das Landesarbeitsgericht mit der
Maßgabe zurückverwiesen worden, das Verfahren bis zu einer Neuregelung
auszusetzen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden
Erwägungen zugrunde:
1. Der Landesgesetzgeber greift in die durch Art.
12 Abs. 1 GG garantierte freie Wahl des Arbeitsplatzes ein, indem aufgrund der
Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG das Universitätsklinikum als
rechtsfähige Anstalt zum Arbeitgeber der Beschwerdeführerin wird. Dadurch wird
ihr ein neuer, von ihr nicht frei gewählter Arbeitgeber aufgedrängt. Zugleich
wird den betroffenen Arbeitnehmern unmittelbar der von ihnen gewählte
Arbeitgeber entzogen. Besonderes Gewicht erhält der Eingriff zudem dadurch,
dass aufgrund der geplanten Privatisierung mit der Versetzung der Arbeitnehmer
an das Klinikum ein Prozess in Gang gesetzt wird, der sie nicht nur aus dem
Landesdienst, sondern letztlich auch aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Eine
verfassungskonforme Auslegung des § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG durch Einräumung
eines Widerspruchsrechts entsprechend § 613a BGB scheidet angesichts der
bewussten Entscheidung des Landesgesetzgebers gegen ein Widerspruchsrecht der
Arbeitnehmer aus.
Dieser durch § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG bewirkte
Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit ist verfassungsrechtlich nicht
gerechtfertigt. Das angegriffene Gesetz dient der Durchführung der
Privatisierung der Universitätskliniken, die als solche eine legitime
Wahrnehmung der Organisationsgewalt des Landes ist. Die Nichteinräumung eines
Widerspruchsrechts hatte aus der Sicht des Landesgesetzgebers das Ziel, die
Privatisierung zu erleichtern, und kann insofern noch als geeignet und
erforderlich angesehen werden. Der Umstand, dass der Landesgesetzgeber zur
Erleichterung seiner Privatisierungsentscheidung als Arbeitgeber die
Privatautonomie seiner Arbeitnehmer beschneidet, macht die Regelung jedoch
unverhältnismäßig.
Denn die in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG
ausgestaltete Überleitung der Arbeitsverhältnisse bewirkt eine Loslösung des
Landes von eingegangenen arbeitsvertraglichen Bindungen, ohne dass bei einem
entgegenstehenden Willen des Arbeitnehmers die Einhaltung kündigungsrechtlicher
Vorschriften sichergestellt werden muss. Dadurch wird dem Arbeitnehmer ein
erhebliches Maß an Bestandsschutz entzogen. Die Ausübung eines
Widerspruchsrechts ließe das Arbeitsverhältnis mit dem bisherigen Arbeitgeber
fortbestehen. Wenn in dessen Betrieb der Beschäftigungsbedarf wegfiele, käme
zwar eine betriebsbedingte Kündigung in Betracht, die aber den Anforderungen
des Kündigungsschutzgesetzes standhalten muss. Ob es dem Arbeitnehmer gelingt,
seine Beschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber auf Dauer beizubehalten, hängt
von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Die Abwägung der damit
verbundenen Risiken muss aber der privatautonomen Entscheidung des
Arbeitnehmers vorbehalten bleiben. Die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte
Privatautonomie des Arbeitnehmers erlaubt Gesetzgeber und Gerichten nicht,
kraft vermeintlich besserer Einsicht die Entscheidung, welcher von mehreren zur
Auswahl stehenden Arbeitgebern mehr Vorteile bietet, an Stelle des
Arbeitnehmers zu treffen.
Jedenfalls dann, wenn der Wechsel des Arbeitgebers
unmittelbar kraft Gesetzes aus der Beschäftigung bei einem öffentlichen
Arbeitgeber zu einem privaten Arbeitgeber führt oder wenn es sich - wie hier -
um einen Zwischenschritt zu einer beabsichtigten Privatisierung handelt, muss
der Gesetzgeber das Grundrecht des Arbeitnehmers auf freie Wahl des
Arbeitsplatzes schützen. Denn das Land tritt in einem Privatisierungsprozess in
einer Doppelrolle auf, nämlich sowohl als (bisheriger) Arbeitgeber wie als
Gesetzgeber, der sich selbst unmittelbar durch Gesetz aus der
Arbeitgeberstellung löst und sich damit seinen arbeitsvertraglichen Pflichten
entzieht. Damit ist zwar nicht gerade die Vorschrift des § 613a Abs. 6 BGB
verfassungsrechtlich geboten. Soweit die in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG
geregelte Überleitung des Arbeitsverhältnisses aber überhaupt keine Möglichkeit
bietet, den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zum Land geltend machen zu
können, stellt dies eine unverhältnismäßige Beschränkung des durch Art. 12 Abs.
1 GG geschützten Interesses der betroffenen Arbeitnehmer an der Beibehaltung
des gewählten Vertragspartners dar, die durch die mit der Privatisierung
verfolgten Ziele nicht gerechtfertigt ist.
2. Dagegen ist die Beschwerdeführerin nicht in
ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
verletzt. Aus verfassungsrechtlicher Sicht bestehen keine Bedenken dagegen,
dass das Bundesarbeitsgericht von einem Vorabentscheidungsersuchen an den
Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV abgesehen hat.
Insbesondere konnte es vertretbar davon ausgehen, dass es für ein
Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer bei einem Betriebsübergang an einer
europarechtlichen Grundlage fehlt. Weder die Betriebsübergangsrichtlinie
2001/23/EG selbst enthält eine Vorschrift zum Widerspruchsrecht noch hat der
Gerichtshof aus der Richtlinie ein Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer
abgeleitet. Vielmehr hat er in den Urteilen, in denen er sich mit Fragen zum
Widerspruchsrecht auseinandergesetzt hat, betont, dass die in der Richtlinie
2001/23/EG angeordnete Rechtsfolge des Betriebsübergangs, das heißt der
Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den Betriebserwerber, zwingend ist. Den
Grundrechten der Arbeitnehmer ist aus Sicht des Gerichtshofs nur geschuldet,
dass sie sich gegen die durch den Betriebsübergang bewirkte Begründung einer
arbeitsvertraglichen Beziehung mit dem Betriebserwerber entscheiden können. Er
hat es aber ausdrücklich abgelehnt, den Zweck der Richtlinie auch darin zu
sehen, dass die Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeit nicht für den Betriebserwerber
ausüben wollen, das Arbeitsverhältnis mit dem Veräußerer fortsetzen können.