Rechtstipp im Arbeitsrecht
Bitte eines Schwerbehinderten eine Einladung zum Vorstellungsgespräch nur bei ernstem Interesse vorzunehmen, ist kein Verzicht auf Einladungspflicht
Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 26.11.2020 zum Aktenzeichen 8 AZR 59/20 entschieden, dass die in§ 165 Satz 3 SGB IX bestimmte Verpflichtung des öffentlichen Arbeitgebers, schwerbehinderte Stellenbewerber/innen zum Vorstellungsgespräch einzuladen, zu den Pflichten des Arbeitgebers gehört, mit denen kein individueller Anspruch bzw. kein individuelles Recht der jeweiligen schwerbehinderten Bewerber/innen auf eine Einladung korrespondiert, auf den bzw. auf das diese rechtswirksam.
Die Parteien streiten darüber, ob die beklagte Stadt (im Folgenden Beklagte) verpflichtet ist, an die Klägerin eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung zu zahlen.
Der Klägerin ist es nach dem Grundsatz von Treu und Glauben ( § 242 BGB ) unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) nicht deshalb verwehrt, sich im vorliegenden Entschädigungsverfahren auf die durch die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch begründete Kausalitätsvermutung zu berufen, weil sie in ihrer Bewerbungs-E-Mail die Bitte geäußert hatte, sie nur dann zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wenn sie in die engere Wahl genommen würde.
Widersprüchliches Verhalten ist erst dann rechtsmissbräuchlich, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand entstanden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen.
Beides ist hier nicht der Fall. Die Beklagte konnte aufgrund der von der Klägerin in der Bewerbungs-E-Mail geäußerten Bitte nicht darauf vertrauen, die Klägerin wolle ihre Schwerbehinderung nicht entsprechend den Vorgaben von § 165 Satz 3 SGB IX im Bewerbungsverfahren berücksichtigt wissen.
Die Auslegung der Erklärung der Klägerin in der E-Mail richtet sich nach den für Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts entwickelten Grundsätzen. Entsprechend § 133 BGB ist nicht am buchstäblichen Sinn des in der Erklärung gewählten Ausdrucks zu haften, vielmehr ist der darin verkörperte Wille zu ermitteln. Maßgebend ist dabei der objektive Erklärungswert aus dem Empfängerhorizont.
Bei der Erklärung der Klägerin handelt es sich um eine nichttypische Erklärung. Der Senat kann diese nichttypische Erklärung selbst auslegen. Zwar obliegt die Auslegung nichttypischer Erklärungen in erster Linie den Tatsachengerichten. Sie kann vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob das Berufungsgericht Auslegungsregeln verletzt, gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Tatsachen unberücksichtigt gelassen hat. Das Revisionsgericht kann aber nichttypische Erklärungen selbst auslegen, wenn das Urteil des Landesarbeitsgerichts – wie vorliegend – nicht erkennen lässt, welche Umstände bei der Auslegung berücksichtigt wurden. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit lediglich ausgeführt, die Klägerin habe „unstreitig auf die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch unbeschadet der Dispositivität der Rechtsnorm konditioniert verzichtet“, ohne zu begründen, wie es zu dieser Annahme gekommen ist. Das Landesarbeitsgericht hat den erforderlichen Sachverhalt zudem vollständig festgestellt, weiteres tatsächliches Vorbringen der Parteien ist nicht zu erwarten.
Die Auslegung der E-Mail der Klägerin ergibt, dass diese keinesfalls auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch verzichten wollte, sondern gerade den Wunsch hatte, zu einem solchen eingeladen zu werden, um durch einen persönlichen Eindruck ihre Chancen im Auswahlverfahren zu verbessern. Zugleich ging es ihr darum, etwaige Vorbehalte oder gar Vorurteile der Beklagten wegen ihrer Schwerbehinderung gar nicht erst entstehen zu lassen bzw. auszuräumen. Der Umstand, dass die Klägerin in der Bewerbungs-E-Mail die Bitte geäußert hatte, sie nur dann zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wenn sie in die engere Wahl genommen würde, ändert daran nichts.
Die Klägerin hatte in ihrer Bewerbungs-E-Mail nicht nur ausgeführt, dass ihre Schwerbehinderung keinesfalls ein Indiz dafür sei, dass sie unfähiger sei als andere, eine gute Arbeit abzuliefern, sondern zudem darauf hingewiesen, sie würde sich noch mehr freuen, wenn die Beklagte ihr eine Chance gäbe, sich bei einem persönlichen Gespräch näher kennenzulernen. Auch die Passage der E-Mail der Klägerin, in der es heißt: „So warte ich nun auf Ihr hoffentlich positives Antwortschreiben und sehe diesem gespannt und dankend entgegen“, konnte von der Beklagten nur so verstanden werden, dass die Klägerin sich ernsthaft wünschte, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.
Demgegenüber fällt der Satz „Bitte laden Sie mich nur dann zu einem Vorstellungsgespräch ein, wenn Sie mich in die engere Wahl nehmen, alles andere macht m. E. wenig Sinn“ nicht besonders ins Gewicht. Die Beklagte musste diesen Satz vor dem Hintergrund der von der Klägerin in der E-Mail deutlich mitgeteilten Enttäuschung über Misserfolge in vorangegangenen Bewerbungsverfahren in erster Linie als Ausdruck von Frustration auffassen, und nicht als Erklärung, dass die Klägerin ihre Schwerbehinderung nicht entsprechend den Vorgaben von § 165 Satz 3 SGB IX berücksichtigt wissen wollte und auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch keinen Wert legte. So hatte die Klägerin ua. ausgeführt: „Inzwischen will bei mir auch keine so rechte Freude mehr aufkommen, denn immer wieder Absagen zu bekommen, ist auch nicht wirklich motivierend, freundlich und hilfreich …“.