Rechtstipp im Arbeitsrecht
Außerordentliche Kündigung als Verdachtskündigung wegen vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit
Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 10.12.2020 zum Aktenzeichen 8 Sa 491/20 entschieden, dass die 45minütige Tätigkeit eines Lageristen in einer Pizzeria nicht geeignet ist, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wegen Gastroenteritis und Ermüdung zu erschüttern.
Es kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gefolgert werden, dass der Kläger vollschichtig seine körperlich anspruchsvolle Arbeit als Lagerist hätte ausüben können.
Der Kläger war vom 29.08.2019 bis 02.09.2019 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Er hat die darüber ausgestellte Erstbescheinigung seiner Hausärztin D . L (Fachärztin für innere Medizin) der Beklagten eingereicht. Am 03.09.2019 machte der Kläger einen Arbeitsversuch, den er jedoch abbrach. Er erklärte dazu seinem Vorgesetzten, Herrn L , dass er seit längerem an einem Magen-Darm-Infekt mit Durchfall leide. Der Kläger wurde am 03.09.2019 weiter bis zum 14.09.2019 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die Folgebescheinigung vom 03.09.2019 wurde der Beklagten überreicht. Als Diagnosen waren – auf der vom Kläger überreichten Bescheinigung für die Krankenversicherung vom 03.09.2019 – angegeben: AO9.9 G (Gastroenteritis) und R 53 G (Unwohlsein und Ermüdung).
Am 08.09.2019 hielt sich der Kläger während seiner Arbeitsunfähigkeit in einer Pizzeria („ F -B ) auf. Er hat dort Pizzakartons in eine Styroporbox gestellt und diese sodann in ein geparktes Auto verbracht.
Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 23.09.2019 ist weder als Verdachts- und erst recht nicht als Tatkündigung rechtswirksam. Es besteht kein wichtiger Kündigungsgrund iSv § 626 Abs.1 BGB.
Die Beklagte wirft dem Kläger vor allem vor, er habe seine Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum 29.08.2019 bis 14.09.2019 vorgetäuscht und sich für diese Zeit vorsätzlich Entgeltfortzahlung erschlichen. Darüber hinaus habe der Kläger sich genesungswidrig verhalten und zugleich gegen die Verpflichtung zur Anzeige einer Nebentätigkeit verstoßen. Es bestehe insoweit jedenfalls ein dringender Tatverdacht.
Als wichtiger Grund „an sich“ geeignet sind nicht nur erhebliche Pflichtverletzungen im Sinne von nachgewiesenen Taten. Auch der dringende, auf objektive Tatsachen gestützte Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung kann einen wichtigen Grund bilden. Ein solcher Verdacht stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. (st. Rspr., vgl. etwa BAG 17. 03. 2016 – 2 AZR 110/15 – mwN).
Die Beklagte wirft dem Kläger vor allem vor, er habe seine Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum 29.08.2019 bis 14.09.2019 vorgetäuscht und sich für diese Zeit vorsätzlich Entgeltfortzahlung erschlichen. Die Beklagte hat jedoch die Voraussetzungen eines dringenden Tatverdachts für eine Verdachtskündigung nicht schlüssig dargelegt. Denn sie hat keine ausreichenden objektiven Tatsachen vorgetragen, woraus sich eine große Wahrscheinlichkeit ergibt, dass ihr Kündigungsvorwurf in der Sache zutrifft. Erst recht hat die Beklagte schlüssig objektive Tatsachen für eine erwiesene Tat vorgetragen, die eine Tatkündigung rechtfertigen könnte. Insbesondere hat die Beklagte die Beweiskraft der hier streitigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht erschüttert. Einer Beweisaufnahme durch Vernehmung der Hausärztin des Klägers Frau D . L bedurfte es daher nicht.
Das Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit kann einen „wichtigen Grund an sich“ im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB Kündigung darstellen, wenn der Arbeitnehmer unter Vorlage eines Attests der Arbeit fernbleibt und sich Entgeltfortzahlung gewähren lässt, obwohl es sich in Wahrheit nur um eine vorgetäuschte Krankheit handelt. Ein solcher Arbeitnehmer wird regelmäßig sogar einen vollendeten Betrug begangen haben, denn durch Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat er den Arbeitgeber unter Vortäuschung falscher Tatsachen dazu veranlasst, ihm unberechtigterweise Lohnfortzahlung zu gewähren. Dabei obliegt es dem Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess, den Beweis für den erhobenen Kündigungsvorwurf zu führen (grundlegend BAG 26.08.1993 – 2 AZR 154/93; BAG 29.06.2017 – 2 AZR 597/16 – mwN; vgl. etwa auch LAG Köln 07.07.2017 – 4 Sa 936/16 – mwN).
Der Kläger war unstreitig vom 29.08.2019 bis 02.9.2019 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Er hat die darüber ausgestellte Erstbescheinigung seiner Hausärztin D . L (Fachärztin für innere Medizin) der Beklagten eingereicht. Am 03.09.2019 machte der Kläger einen Arbeitsversuch, den er jedoch abbrach. Durch Folgebescheinigung vom 03.09.2019 wurde er weiter bis zum 14.09.2019 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Als die Arbeitsunfähigkeit begründende Diagnosen waren – auf der vom Kläger vorgelegten Bescheinigung für die Krankenversicherung vom 03.09.2019 – angegeben: AO9.9 G (Gastroenteritis) und R 53 G (Unwohlsein und Ermüdung).
Einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Sie hat die Vermutung der inhaltlichen Richtigkeit für. Erhebt der Arbeitgeber trotz vorgelegter ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung den Vorwurf, die Arbeitsunfähigkeit sei nur vorgetäuscht, muss er einerseits vortragen, dass der Arbeitnehmer ihn vorsätzlich über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit getäuscht und darüber hinaus ausreichende Tatsachen darlegen und beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit Anlass geben und den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit erschüttern (vgl. etwa BAG 26.10.2016 – 5 AZR 167/1; 19.02. 2015 – 8 AZR 1007/13; BAG 21.03.1993 – 2 AZR 543/95 – jeweils mwN).
Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann erschüttert werden durch Umstände im Zusammenhang mit der Bescheinigung selbst, durch das Verhalten des Arbeitnehmers vor der Erkrankung und durch das Verhalten des Arbeitnehmers während der bescheinigten Dauer der Arbeitsunfähigkeit (vgl. etwa LAG Köln 26.06.2007 – 11 Sa 238/07 – mwN).
Ist ihm dies gelungen, so ist es unter Berücksichtigung der im Kündigungsschutzprozess greifenden abgestuften Darlegungs- und Beweislast Aufgabe des Arbeitnehmers darzulegen, welche Erkrankungen zur Arbeitsunfähigkeit geführt haben, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen diese mit sich gebracht haben und welche Verhaltensweisen ihm ärztlicherseits auferlegt worden sind. Bei ausreichender Substantiierung ist es sodann Sache des Arbeitgebers, den konkreten Sachvortrag des Arbeitnehmers, dem es obliegt, die ihn behandelnden Ärzte von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden, zu widerlegen (vgl. BAG 07.12.1995 – 2 AZR 849/94; 26.08.1993 – 2 AZR 154/93; LAG Hamm 13.03.2015 – 1 Sa 1534/14 – mwN).
Der Beklagten ist es nicht gelungen, objektive Tatsachen – weder für die Verdachtskündigung und erst recht nicht für die Tatkündigung vorzutragen, die den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Zeitraum vom 29.08.2019 bis zum 14.09.2019 erschüttern und damit ausreichende Zweifel an der Vermutung auslösen, dass diese Bescheinigung inhaltlich zutrifft.
Dabei geht das Gericht in tatsächlicher Hinsicht davon aus, dass der attestierten Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum vom 29.08.2019 bis zum 14.09.2019 eine ärztliche Diagnose mit den Kurzbezeichnungen AO9.9 G (Gastroenteritis, also Magen-Darmentzündung) und R 53 G (Unwohlsein und Ermüdung. (Unwohlsein und Ermüdung; Allgemeiner körperlicher Abbau Asthenie o.n.A- Lethargie Müdigkeit Schwäche: chronische Schwäche: o.n.A. Adynamie Allgemeine Ermüdungserscheinungen Allgemeine Mattigkeit),) zugrunde liegt. Die von der Beklagten vorgetragenen Hilfs-Tatsachen sind nicht geeignet, den hohen Beweiswert einer ärztlich attestierte Arbeitsunfähigkeit wegen einer Magen-Darmentzündung und psychischer Beschwerden allgemeiner Müdigkeit und Schwäche und die damit einhergehende Vermutung der inhaltlichen Richtigkeit zu erschüttern.
Die Beklagte beruft sich dafür vor allem auf die Tatsache, dass sich der Kläger unstreitig am 08.09.2019 während seiner Arbeitsunfähigkeit in einer Pizzeria („ F -B ) aufgehalten und dort Pizzakartons in eine Styroporbox gestellt und diese sodann in ein geparktes Auto verbracht hat. Nach Vortrag der Beklagten hat der Kläger dabei für eine Dauer von 45 Minuten Essensbehälter in Styroporboxen zum Zwecke der Auslieferung an Kunden verbracht, Bestell- bzw. Kassenzettel sortiert und die Box in einen Lieferwagen verbracht.
Dieser Vortrag der Beklagten ist bereits deshalb nicht geeignet, den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern, weil er im Hinblick auf die Dauer der Arbeitsunfähigkeit über den Zeitraum vom 29.08.2019 bis zum 14.09.2019 lediglich eine – auch bei 45 Minuten – sehr kurze Tätigkeit des Klägers betrifft. Es kommt hinzu, dass auch der Zeitpunkt dieser Tätigkeit am 08.09.2019 keinen hinreichend wahrscheinlichen oder gar sicheren Rückschluss auf das Vorliegen der attestierten Arbeitsunfähigkeit im Zeitpunkt der Ausstellung der Erstbescheinigung am 29.08.2019 sowie der Folgebescheinigung am 03.09.2019 zulässt.
Soweit die Beklagte behauptet, der Kläger habe nicht nur am 08.09.2019 sondern an vielen Tagen – auch in der Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit – erwerbsmäßig als Nebentätigkeit in der Pizzeria gearbeitet, hat sie zur Begründung dieses Vortrags keine objektiven Tatsachen für einen dringenden Tatverdacht und erst recht für eine nachgewiesene Tat vorgetragen.
Der Kläger hat die pauschale Behauptung der Beklagten bestritten und vorgetragen, er habe am 8.9.2019 habe er sich tatsächlich für ca. 15 Minuten in der Pizzeria aufgehalten. Dies habe er getan, da er sich dort ein Essen bestellt habe und einen Kaffee getrunken habe. Der Kläger hat bestritten, in der Pizzeria entgeltlich gearbeitet zu haben. Er habe lediglich für ca. 10 Minuten geholfen. Er sei mit dem Inhaber des Restaurants befreundet. Er habe dann nur kurz ein paar befüllte Pizzakartons in eine Styroporbox gestellt und diese in ein vor der Pizzeria geparktes Auto gestellt. Sein Freund sei im Stress gewesen. Deshalb habe er kurz geholfen.
Diesen Vortrag hat die darlegungs- und beweispflichtige Beklagte nicht ausgeräumt. Sie beschränkt sich vielmehr auf bloße, nicht durch objektive Tatsachen belegte Vermutungen. Soweit sie unter Vorlage eines Fotos von der Pizzeria (Anlage B 6,Bl. 181 d. A.), behauptet, der Kläger sei darauf vor dem Backofen zu erkennen, hat der Kläger dies bestritten. Selbst wenn er dort am Backofen gestanden haben soll, lässt sich daraus nicht der Schluss ziehen, dass der Kläger – wie die Beklagte behauptet –während seiner Arbeitsunfähigkeit an mehreren Tagen in der Pizzeria gearbeitet hat.
Die im Wesentlichen unstreitige kurzzeitige Tätigkeit des Klägers am 08.09. in der Pizzeria während seiner Arbeitsunfähigkeit, ist – sogar wenn er diese nicht nur an diesem einen Tag verrichtet haben sollte, auch deshalb nicht geeignet den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern, weil daraus nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit folgt, dass der Kläger in dieser Zeit vollschichtig seine Tätigkeit als Lagerist hätte ausüben können. Schon gar nicht lässt dies einen hinreichenden Rückschluss auf Zeit der Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen am 29.08.2019 und 03.09.2019 zu.
Denn der Kläger hat nach seinem – von der Beklagten nicht bestrittenen Vortrag – als Lagerist im Logistikcenter der Beklagten vollschichtig eine körperlich anspruchsvolle Arbeit zu verrichten. So gehört zu seinen Aufgaben u.a. das Be- und Entladen von Warenlieferungen bzw. Leergut, die Einlagerung, Zusammenstellung, Auslagerung und Bereitstellung von Teilen und Materialien an vorgegebene Lagerorte ggf. mit Transportgeräten, wie z.B. Gabelstaplern. Diese Arbeit ist mit schwerem Heben und Tragen verbunden.
Soweit die Beklagte vorträgt, diese Tätigkeit stehe der vom Kläger in der Pizzeria ausgeübten Tätigkeit im Wesentlichen gleich, ist dieser Einwand im Hinblick auf die körperlichen Anforderungen einer vollschichtigen Tätigkeit als Lagerist unsubstantiiert und nicht nachzuvollziehen.