Rechtstipp im Versicherungsrecht
Das Leistungskürzungsrecht nach Quoten im Versicherungsfall
Gemäß dem bis 2007 geltenden VVG wurde das Versicherungsunternehmen
als Versicherungsgeber vollständig von der Verpflichtung zur Leistung
frei, wenn der Versicherungsnehmer grob fahrlässig gehandelt hat.
Die grobe Fahrlässigkeit im Versicherungsfall definiert sich wie folgt:
Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in
besonderem Maße verletzt, ganz einfache, naheliegende Überlegungen
vernachlässigt und nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem
einleuchten musste. Ausreichend ist es, wenn der Versicherungsnehmer die
Gefahren unterschätzt oder aus Gedankenlosigkeit nicht erkennt.
Gefahrabwendende Maßnahmen müssten für den Versicherungsnehmer möglich,
geeignet und zumutbar sein.
Das Verschulden bezieht sich auf die Verletzung der Obliegenheit.
Obliegenheiten sind Verhaltenspflichten, die der Versicherungsnehmer im
eigenen Interesse einzuhalten hat; andernfalls riskiert er den
Versicherungsschutz. Von den Risikoausschlüssen unterscheiden sich die
Obliegenheitsverletzungen dadurch, dass sie dem Versicherer nachträglich
die Möglichkeit eröffnen, von der Leistungspflicht frei zu werden,
während die Risikoausschlüsse von vornherein festlegen, dass bestimmte
Schäden nicht vom Deckungsumfang des Versicherers erfasst werden.
Der Versicherer bleibt zur Leistung verpflichtet, wenn die
Obliegenheitsverletzung durch einfache Fahrlässigkeit begangen worden
ist, also das vorwerfbare Handeln des Versicherungsnehmers verständlich
erscheint. Dies stellt eine Verschärfung gegenüber der Haftung nach
altem Recht im Falle der Obliegenheitsverletzung vor Eintritt des
Versicherungsfalles dar. Gem. § 6 Abs. 1 und 2 VVG a. F. war der
Versicherer bei einfacher Fahrlässigkeit leistungsfrei. Seit 2007 gilt
das quotale Leistungskürzungsrecht des Versicherers. Im Falle einer grob
fahrlässigen Verletzung der Obliegenheit ist der Versicherer
berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des
Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen (§ 81 Abs. 2
VVG - Herbeiführung des Versicherungsfalles).
Das entsprechende Verhältnis steht dabei im direkten Bezug zum
quotale Leistungskürzungsrecht. Wie diese Quote zu bilden ist, ist noch
nicht höchstrichterlich entschieden und wird unterschiedlich gelöst.
Wohl überwiegend wird eine Einstiegsquote von 50% favorisiert, die
der Versicherer oder der Versicherungsnehmer zu ihren Gunsten und mit
einer sie dann treffenden Beweislast verbessern können (vgl. auch:
Felsch, RuS 2007, 485; derselbe in Rüffer/Halbach/Schimikowski, HK-VVG, §
28 Rn. 161; Nugel, MDR 2007, 23, 26; Weidner/Schuster, RuS 2007, 363;
Knappmann VRR 2009, 9; Langheid, NJW 2007, 3665; Grote/Schneider, BB
2007, 2689; Unberath, NZV 2008, 537; Karczewski in
Rüffer/Halbach/Schimikowski, HK-VVG, § 81 Rn. 97 f.).
Das Landgericht Dortmund (Urteil vom 15.07.2010, 2 O 8/10) hielt diesen
Lösungsansatz für nicht überzeugend und hat sich ihm deshalb nicht
angeschlossen (so auch schon LG Münster, VersR 2009, 1615 mit Anm.
Günther, RUS 2009, 492). Nach zutreffender Auffassung der Kammer lassen
sich feste Quoten oder Einstiegsquoten mit variablen Ergänzungen mit dem
Gesetz und der gesetzgeberischen Intention nicht vereinbaren. Es ist
vielmehr in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der dabei
bestehenden Besonderheiten eine Leistungskürzungsquote zu bestimmen, die
der Schwere der Schuld des Versicherungsnehmers angemessen ist (Wandt
in Langheid/Wandt, Münchener Kommentar, VVG, § 28 Rn. 239 f.; Heise in
Bruck/Möller, VVG, 9. Auflage, § 28 Rn. 190 f; Marlow in Marlow/Spuhl,
Das neue VVG kompakt, 4. Auflage 2010, Rn. 327; Schwintowski in
Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar zum VVG, § 28 Rn. 78;
kritisch gegenüber groben Quotenrastern auch Maier, jurPR-VersR 7/2010
Anm. 2).
Diese Auffassung deckt sich auch mit dem Willen des Gesetzgebers. Mit
der Abschaffung des „Alles-oder-Nichts-Prinzips“, sollte die
Sanktionierung auch von Obliegenheitsverletzungen für den
Versicherungsnehmer durchschaubarer gestaltetet werden, es sollte mehr
Einzelfallgerechtigkeit geben, um nach bisherigem Recht als
unbefriedigend empfundene Ergebnisse vermeiden zu können (amtliche
Begründung: BT-Drucks. 16/3945, Seite 69). Damit hat der Gesetzgeber mit
§ 28 Abs. 2 Satz 2 VVG bewusst eine flexible, sich an den Umständen des
Einzelfalls ausrichtende Lösung bevorzugt (Heise in Bruck/Möller, VVG,
9. Auflage, § 28 Rn. 190).
Diesem an Einzelfallgerechtigkeit ausgerichteten gesetzgeberischen
Lösungsansatz wird eine wie auch immer geartete Quotenvorgabe nicht
gerecht. Zudem steht mit diesem als Mittelwertmodell bezeichneten
Lösungsansatz die vom Gesetzgeber vorgegebene Beweislastverteilung
entgegen. Denn für das Verschuldensmaß, nach dem sich im Falle grober
Fahrlässigkeit der Umfang der Leistungspflicht bestimmt, ist der
Versicherer beweispflichtig (vgl. BT-Drucks. 16/3945, Seite 69).
Damit kann es nicht zur Beweislast des Versicherungsnehmers stehen,
die Leistungskürzungsbefugnis des Versicherers unter eine Quote von 50%
zu drücken.
Andererseits bedeutet dies, dass sich der Rahmen möglicher
Kürzungsquoten von 0 % bis hin zu 100% spannt. In diesem Kürzungsrahmen
ist die der Schwere der Schuld des Versicherungsnehmers entsprechende
Kürzungsquote zu bestimmen. Die Leistungskürzungsbefugnis des
Versicherers ist umso größer, je näher das grobe Verschulden an die
schwerere Verschuldensform, den Vorsatz, heranreicht. Das Landgericht
Dortmund geht dabei von Kürzungsquoten im 10tel-Bereich aus (vgl. Urteil
vom 15.07.2010, 2 O 8/10).
Das Landgericht Hannover geht hält es hingegen vom Ansatz her für
sachgerecht, im Regelfall der grob fahrlässigen Herbeiführung des
Versicherungsfalls eine Kürzung von 50% vorzunehmen.
„Denn diese Vorgehensweise fügt sich nahtlos in einen dreistufigen
Aufbau ein, wonach bei leichter Fahrlässigkeit eine volle
Leistungspflicht des Versicherers besteht, bei Vorsatz der Anspruch des
Versicherungsnehmers ganz entfällt und bei grober Fahrlässigkeit eine
Leistungskürzung vorzunehmen ist. Diese liegt für den Regelfall mit 50%
genau auf der Hälfte zwischen voller Erstattung und vollständiger
Leistungsverweigerung, wobei es sich hierbei nur um einen ersten
Anhaltspunkt und nicht um eine Quotenvorgabe handelt.“ (vgl. LG
Hannover, Urteil vom 17.09.2010 - 13 O 153/08). Dabei hält auch das
Landgericht Hannover Kürzungsquoten in Schritten von 10% für angemessen,
um die vom Gesetzgeber gewollte Einzelfallgerechtigkeit zu erreichen
(vgl. LG Hannover, Urteil vom 17.09.2010 - 13 O 153/08).
Die Frage, wie ein derartiges Zusammentreffen mehrerer
Obliegenheitsverletzungen rechtlich zu beurteilen ist, stellt sich, wenn
mehrere Obliegenheitsverletzungen zusammenstoßen.
Für einen derartigen Fall des Zusammentreffens mehrerer
Obliegenheitsverletzungen ließen sich verschiedene Lösungen aufführen,
nämlich die Quotenaddition; eine Quotenmultiplikation in der Weise, dass
etwa der Versicherer die Leistung zunächst um 60%, die restliche
40%-Leistung dann nochmals um beispielsweise weitere 40% auf zuletzt
noch verbleibende 24% gekürzt bekäme; oder eine Quotenkonsumption, bei
der sich im Ergebnis allein diejenige Fehlhandlung des
Versicherungsnehmers auf die Leistungshöhe auswirkt, die dem Versicherer
die höchste Freistellungsquote eröffnet, wobei die dahinter
zurückbleibenden Leistungsfreiheitsquoten aus parallelen Fehlhandlungen
des Versicherungsnehmers überlagert und konsumiert werden. Schließlich
wäre noch denkbar, mittels einer Gesamtbewertung aller grob fahrlässigen
Verstöße zu einer einheitlichen Leistungsfreiheitsquote zu finden (vgl.
zu den verschiedenen Lösungsmodellen Rüffer/Halbach/Schimikowski, § 28
Rn. 185 ff.).
Das Landgericht Kassel hielt im Fall eines Einbruchsdiebstahlschadens
das Modell der Quotenaddition für angemessen und begründete dies wie
folgt:
Alle anderen Modelle führen nämlich dazu, dass derjenige
Versicherungsnehmer, der mehrfach grob fahrlässig gegen den
Versicherungsvertrag verstößt, im Ergebnis privilegiert wird. Derjenige
Versicherungsnehmer, der sich nur einmalig falsch verhält, müsste die
prozentuale Kürzung in voller Weise hinnehmen, während derjenige
Versicherungsnehmer, der mehrfach grob fahrlässig gegen den
Versicherungsvertrag verstößt, nicht alle Kürzungen hinnehmen müsste,
sondern in gewisser Weise Rabatt bekäme. Dies erscheint nicht gerecht.
Vielmehr muss ein Versicherungsnehmer, der mehrfach grob fahrlässig
gegen den Versicherungsvertrag verstößt, sich hieran festhalten lassen
und sich auch die -jeweils einzeln verwirkten - Kürzungen in voller
prozentualer Höhe entgegenhalten lassen. Dieses Ziel - den mehrfach grob
fahrlässig gegen den Versicherungsvertrag verstoßenden
Versicherungsnehmer nicht zu privilegieren - erreicht nur die reine
Quotenaddition. (vgl. LG Kassel: Urteil vom 27.05.2010 - 5 O 2653/09).
Als Versicherungsnehmer empfiehlt es sich daher in einem Schadensfall
frühzeitig einen Anwalt einzuschalten, um die mit der
Schadensregulierung verbundenen Entscheidungsprozesse rechtlich zu
begleiten. Andernfalls können langwierige, im Ergebnis zumeist
unbefriedigende Regulierungsverhandlungen im Schadensfall eintreten und
teure Überraschungen vor Gericht drohen.
Jean Gutschalk
Rechtsanwalt